Der große invasive Zug der Distelfalter

 

 

Der Distelfalter gehört zu den Wanderfaltern; zu den bekannteren unter ihnen zählt der verwandte Admiral, außerdem der Totenkopf-Schwärmer, der in 50 Stunden im Dauerflug von Italien nach Südschweden gelangen kann.

 

Nur bei ständigem Rückenwind könnte der Distelfalter mithalten, machte er die Nacht zum Tage!

 

Günstige Entwicklungsbedingungen im Winter führen in seiner mediterranen Heimat zu einer neuen Generation mit sehr großer Individuenzahl. Das Zugverhalten beginnt, instinktiv will die Art expandieren. Dabei kann ein wahrer Aufbruch der Massen eintreten, meistens um der südlichen Dürreperiode zu entkommen.

 

Die Heimat des Distelfalters liegt in Nordafrika. Erstaunlich früh setzte dort im Herbst 2018 wechselhaftes Wetter ein, die Vegetation erblühte so intensiv, dass sich eine große Falter-Population entwickeln konnte. Sie flog über die Mittelmeerengen nach Spanien und Sizilien. Vor allem auf der Iberischen Halbinsel und in Südfrankreich konnte sich unter günstigen Bedingungen eine weitere, wesentlich größere nächste Generation entwickeln. Unaufhörlich ziehen sie als nächste jüngere Populationswelle in nördlicher Richtung weiter, um ab der fortgeschrittenen Frühlingszeit Mitteleuropa massenhaft zu überfluten.

 

In diesem Winter aber gab es außerdem hervorragende Entwicklungsbedingungen in Saudi-Arabien, so dass eine außergewöhnlich große Zahl über die Balkan-Route Richtung Mitteleuropa vorangekommen ist. Sie hat außerordentlich den gegenwärtigen invasiven Auftritt der Art verstärkt!

 

So fand am 13. Juni bei leichtem Südwind ein Zusammenfächeln vieler Schmetterlinge längs des nördlichen Elbdeiches zwischen Glückstadt und Brunsbüttel statt. Schon vor 9 Uhr formierte sich ein zig Kilometer langer Zug in der Marschlandschaft.

 

Die größte Dichte ergab sich an der Deichkrone. Über den gesamten sonnigen Tag hinweg ließen sich die Schmetterlinge im leichten Wind am Deichhang entlang treiben, kaum auf Augenhöhe, niemals über 3 m Höhe hinaus. Mal waren es nur 10, meistens 20 bis 35, selten auch einmal 60 in jeder Sekunde: bei leicht auflandigem Wind fast nur am inneren Deichhang!

 

Viel weiter im Binnenland war der Zug auch in einer Entfernung von mehr als 3 bis 4 km vom Deich noch sehr deutlich feststellbar. Hier flogen die Falter in einer Dichte von etwa 5 Exemplaren pro Sekunde bei einer Beobachtungstiefe von maximal 50 m. Das bedeutet, dass auf der Gesamtachse ein Durchzug von mindestens 400, wahrscheinlich 500 Schmetterlingen und mehr je Sekunde stattfand, was der stattlichen Zahl von 1.800.000 Passanten in einer Stunde entspricht.

 

So dürften in dem Gebiet über Tag mindestens 15 Millionen Distelfalter durchgezogen sein, vielleicht waren es doppelt so viele! – Denn wie viele ziehen einzeln, übersehen durch das tiefe Binnenland?

 

Immer weiter bis ins nördliche Skandinavien oder sogar nach Island lassen sie sich vom Winde verwehen, wenn sie es dann schaffen! – Denn sollten die Wellen nach ihnen fassen, erleiden sie den nassen Tod!

 

Sie alle werden selbst in den nördlichsten Gefilden zur Fortpflanzung schreiten, indem sie ihre Eier an Kräutern wie Disteln, Malven, Kletten und Brennnesseln ablegen, und so die nächste Generation vorbereiten. Diese Kräutervielfalt bietet der hohe Norden sehr viel mehr als das viel zu arg strapazierte Agrarland Deutschland.

 

Was aus der nächsten Sommergeneration wird, ist ungewiss. Ihre Körpertemperatur passt sich der Umgebung an, entsprechend lange dauert die Entwicklung vom Ei über die Raupe und Puppe zum fertigen Schmetterling. Bei 25° verläuft der Prozess doppelt so schnell wie bei 15°. Skandinavien erlebt allgemein sehr viel wärmere Sommer als früher, die Entwicklungs-chancen sehen dort daher recht gut aus.

 

Nach Eiablage sterben Schmetterlinge allgemein, ihr angeborener Lebensauftrag ist erfüllt. Die neue Generation wird versuchen, bis zum Wintereinbruch wieder den wärmeren Süden zu erreichen. Für das adulte Tier, die Imago, reicht das Rüstzeug nicht aus, um den hiesigen Winter zu überstehen. Sie verhungern bei zu milden Temperaturen, die fehlende Nahrung kann den Energiehaushalt nicht abdecken; denn sie sind einzig und allein Blütenbesucher, also spezifisch angepasste, Nektar saugende Insekten.

 

Der größte Anteil der Abermillionen muss daher auch gegenwärtig weiterziehen. Dabei wird ein sehr geringer Teil von ihnen die wenigen krautreichen Gegenden zur Eiablage nutzen.

 

Man kann diesen Falter der Subtropen einen wahren Kosmopoliten nennen, wenn man bedenkt, dass er über das Jahr gesehen fast alle Erdteile besiedeln kann, verständlicherweise nur nicht die dauerhaft vom Eis bedeckten Flächen der Antarktis und Grönlands.

 

 

Pinneberg, den 20.06.2019

 

Uwe Langrock